Sudetendeutsche Bestandsaufnahme 2003

Die Würfel sind gefallen!

Das Europäische Parlament hat die Aufnahme der zehn EU-Beitrittskandidaten beschlossen; in Athen wurde dies besiegelt. Wenn auch die Tschechische Republik im Europäischen Parlament das schlechteste Ergebnis erzielte, so wurden ihr doch keinerlei Auflagen gemacht.

Rechtsgutachten haben dargelegt, daß die gegen Deutsche und Ungarn gerichteten Vertreibungs- und Entrechtungsdekrete des Präsidenten E. Benesch kein Hindernis für den Beitritt zur EU darstellen. Der zuständige EU-Kommissar Verheugen und tschechische Politiker demonstrieren freudige Genugtuung darüber, daß die heftigen Diskussionen über die Benesch-Dekrete im Jahre 2003 keine negativen Auswirkungen für die Beurteilung der Europa-Fähigkeit der Tschechischen Republik hatten.

Alle kompetenten politischen Instanzen der Tschechischen Republik haben sich zur Rechtmäßigkeit der Vertreibung eines Drittels der alteingesessenen Bevölkerung bekannt. Nach Meinungsumfragen sind etwa 80&% des tschechischen Volkes der gleichen Meinung.

Nachdem die NATO, der damals schon die Tschechische Republik angehörte, 1999 auf dem Kosovo einen Krieg gegen die Vertreibung einer Volksgruppe geführt hatte, war man damals der Überzeugung, daß "ethnische Säuberungen" in Europa nicht als legitimes Mittel der Politik gelten dürfen. Die deutschen Vertriebenen, die bereits 1950 in ihrer Charta ein leidenschaftliches Bekenntnis zur europäischen Einigung abgelegt hatten, müssen nun erfahren, daß die herbeigesehnte EU nicht ihre Sache vertritt, sondern den Zynismus der Vertreiber fördert.

Auf die Vertriebenen wirkt diese Entwicklung wie eine zweite Vertreibung. Vor allem schmerzt es sie, daß ihnen die deutsche Regierung die Solidarität aufgekündigt hat. Die unter diesen Voraussetzungen an die Vertriebenen gerichtete Aufforderung zur Versöhnung degeneriert allmählich zu einer heuchlerischen Floskel und Leerformel wie die "Völkerfreundschaft" zu kommunistischer Zeit.

Wenn wir Sudetendeutschen unsere wichtigsten Anliegen in das vereinte Europa retten wollen, müssen wir eine schonungslose Bestandsaufnahme unserer gegenwärtigen Situation erstellen.

Auf der tschechischen Seite können wir in der nächsten Zukunft keinen Sinneswandel erwarten. Die guten Erfahrungen, die wir bei Konferenzen und anderen Begegnungen machten, berechtigen nicht zu großen Hoffnungen für die Gestaltung der sudetendeutsch-tschechischen Beziehungen. Unsere sich ständig wiederholenden romantischen Rückblicke auf die deutsch-tschechische Kulturgemeinschaft in Böhmen-Mähren-Schlesien finden in der Regel bei tschechischen Partnern bestenfalls ein höfliches Echo. Ein Blick in tschechische Darstellungen der Geschichte einstens deutscher Gemeinden, Städte, Klöster und ganzer Regionen zeigt, daß nicht nur deren Gegenwart und Zukunft tschechisch zu sein haben, sondern auch deren Vergangenheit. Selbst jene, die uns gelegentlich mit einem Wort des Bedauerns über die Exzesse nach 1945 trösten, können ihre Freude darüber, die Deutschen los geworden zu sein, nur schwer verbergen. Dafür sind sie Benesch noch heute dankbar. Aus Verehrung geben sie Plätzen, Straßen und Brücken seinen Namen. In Publikationen über "Große Europäer" wird er mit Dante, Comenius und Masaryk in eine Reihe gestellt. Wir finden nur ganz wenige, die bereit sind, ihn als Nachkriegsverbrecher einzustufen. Auch alte tschechische Freunde aus der Zeit des gemeinsamen Kampfes gegen die kommunistische Diktatur werden heute nur ungern auf die unbewältigte Vergangenheit angesprochen. "Wir haben andere Sorgen" oder "Wollt ihr etwa mit uns tauschen? " sind noch die freundlichsten Antworten auf Versuche, die Ereignisse von 1945 zu thematisieren.

Alexander Mitscherlich bescheinigte den Deutschen, die nach dem Krieg in Existenzsorgen und Wiederaufbauleidenschaft gefangen waren, die "Unfähigkeit zu trauern". Diese Diagnose trifft auf viele Tschechen zu, die in ihre Rolle als Opfer so verliebt sind, daß sie nicht wahrhaben wollen, auch einmal Täter gewesen zu sein. Der Umstand, daß es den Vertriebenen nach einigen Jahren im Westen wirtschaftlich und politisch besser ging als den Vertreibern, ließ an die Stelle der Scham über die Untaten des eigenen Volkes den Neid treten.

Auf deutscher Seite haben wir es mit einem vorgetäuschten Überdruß am Vertriebenenthema zu tun.

Der berechtigte Abscheu vor den Naziverbrechen neutralisiert den Abscheu vor den Verbrechen, die nach dem Krieg an den Deutschen begangen wurden. Der deutsche Ergeiz, Motor der Osterweiterung der EU zu sein, läßt alle Hinweise darauf, daß die Menschenrechte auch für die Deutschen hätten gelten müssen, als Störaktionen erscheinen. Außenminister Fischer erklärt den Sudetendeutschen gegenüber kategorisch "Vergangenheit ist Vergangenheit". Von Deutschland finanzierte Versöhnungsveranstaltungen verbunden mit einem deutsch-tschechischen Ordenssegen bestimmen die Linien der einzuhaltenden "political correctness".

Als Ursache aller Verbrechen an Deutschen wird unmittelbar der vorausgehende Naziterror verantwortlich gemacht. Die eigentlichen Täter kommen ungeschoren davon. So will es ja auch das tschechoslowakische Straffreiheitsgesetz vom Mai 1946. Das Argument, die Sudetendeutschen seien einer gerechten Vergeltung zugeführt worden, wird widerspruchslos hingenommen. Dabei wird nicht das Verbrechen der Sudetendeutschen genannt, das eine so harte Strafe verdient hätte.

Wenn es die unterstellte Mithilfe beim Ende der CSR war, warum sind dann die Slowaken nicht ähnlich behandelt worden? Hätten die Tschechen den Sudetendeutschen mit gleicher Münze zurückgezahlt, was sie selbst im Dritten Reich haben erdulden müssen, dann hätten die Sudetendeutschen für ein sudetendeutsches Protektorat innerhalb der neuen Tschechoslowakei Verständnis gehabt. Es kam ganz anders und viel schlimmer.

Auf sudetendeutscher Seite gibt es eine Vielzahl von Meinungen darüber, welche Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden müssen. Es seien zwei entgegengesetzte Positionen skizziert.

1. Versöhnung um jeden Preis.
Das hören wir immer wieder:
Gebt den Tschechen Zeit für die Aufarbeitung der dunklen Punkte ihrer Geschichte!
Wir dürfen nicht noch einmal zum Zündstoff in Europa werden...
Heißen wir deshalb die Tschechische Republik trotz ihrer feindlichen Erklärungen uns gegenüber in der EU willkommen!

2. Friede und Versöhnung durch Wahrheit und Gerechtigkeit

Die Bejahung von Rache, von Vertreibung und Entrechtung ist in der EU unannehmbar. Für die Zukunft der EU als einer Wertegemeinschaft ist es viel wichtiger, daß eine rassistische und revanchistische Haltung, wie sie in der Legalisierung von Vertreibung und Entrechtung zum Ausdruck kommt, zurückgewiesen wird, als daß sich Sudetendeutsche und Tschechen die Illusion einer oberflächlichen Versöhnung leisten.

Es wäre Aufgabe der deutschen Bundesregierung gewesen, die Mitgliedstaaten der EU darüber aufzuklären, welche politische (Un)-Moral der Beitrittskandidat Tschechische Republik vertritt. Da dies nicht geschieht, ist es Pflicht der sudetendeutschen Volksgruppe, noch mehr als bisher diese Aufklärung in Europa zu betreiben. Die Unkenntnis über diesen Aspekt der neueren europäischen Geschichte ist erschreckend. Es ist schon sehr spät. Aber besser spät als nie. Den Nachkommen armenischer Flüchtlinge und deren Freunden ist es in Frankreich gelungen, nach mehr als 80 Jahren die Französische Nationalversammlung zu einer Erklärung über den türkischen Völkermord an den Armeniern 1915 zu bewegen.

15 Millionen deutsche Heimatvertriebene haben das bei der eigenen Regierung nicht erreicht.

Dabei haben wir im Ringen um die Durchsetzung der Wahrheit gute, angesehene Freunde und Gewährsmänner:
Papst Pius XII., der sich immer wieder gegen die Kollektivschuld und gegen jede Kollektivstrafe wandte; Bischof (und später Kardinal) Alois Münch, der als amerikanischer Bischof und päpstlicher Vertreter in Deutschland 1946 sogar die US-amerikanischen Bischöfe zu einem Hirtenwort gegen die Vertreibung motivierte; der von Mussolini ins Exil getriebene italienische Politiker Don Luigi Sturzo, der gegen Churchills Befürwortung der Vertreibung der Ostdeutschen bereits im Januar 1945 protestierte und sie ein Verbrechen nannte; General Lev Prchala, der noch im September 1939 in Polen als tschechoslowakischer General freiwillig gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte, aber in London gegen die Vertreibungspläne von Benesch war und 1950 die Wiesbadener Erklärung unterzeichnete; Pater Paulus Sladek und viele andere.

Das Volk eines Jan Hus, der für seine Gewissensüberzeugung und für die Wahrheit in den Tod gegangen ist; das Volk eines Comenius, der als großer Pädagoge Europa gezeigt hat, wie man der heranwachsenden Generation die Liebe zur Wahrheit einpflanzen soll; dieses Volk darf nicht immer vor der Wahrheit davonlaufen müssen.

Mit der Auschwitzlüge wäre Deutschland de Weg in die demokratische Völkerfamilie versperrt geblieben. Mit den Lügen über Entrechtung und Vertreibung der Sudetendeutschen wird dem tschechischen Volk die befreiende Wirkung der Wahrheit verschlossen bleiben.

Hier liegt die Tragik unseres Nachbarvolkes, in dessen Staatswappen der Satz steht: "Die Wahrheit siegt!"

Wie kann sie aber siegen, wenn sie verschwiegen wird?

Prof. Dr. Rudolf Grulich
Prof. Dr. Adolf Hampel
Weihbischof Gerhard Pieschl

Aus: Mitteilungen 2-2003 des Sudetendeutschen Priesterwerkes