Europaskepsis auf beiden Seiten der deutsch-tschechischen Grenze

Studie der Technischen Universität Chemnitz zur EU-Erweiterung

Im Jahr 2004 ist der Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union vorgesehen. Die Spitzenpolitiker auf beiden Seiten sind euphorisch, dass mit dem Beitritt Europa zusammenwächst.

Die Europäische Union interessiert, wie die Menschen in den Grenzregionen zur EU-Erweiterung stehen. In einem von der Europäischen Union geförderten Projekt "Border Identities" untersucht die Technische Universität Chemnitz die Einstellung der Bewohner auf beiden Seiten der Grenze zum bevorstehenden Beitritt. Es wurden die Grenzorte Bärenstein auf der sächsischen Seite und Vejprty/Weipert in der Tschechischen Republik ausgesucht.

Das Projekt steht unter der Leitung von Prof. Dr. Werner Holly, Inhaber des Lehrstuhls für Germanistische Sprachwissenschaft. Dr. Pavla Tiserova und Ilona Scherm, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am EU-Projekt "Border Identities" der TU Chemnitz, interviewten auf beiden Seiten der Grenze Familien, in denen drei Generationen vertreten waren, auf unkonventionelle Weise zu den Schicksalsjahren im deutsch-tschechischen Verhältnis. Die Befragten bekamen unter anderem Fotos von dem Einmarsch der deutschen Truppen in das Sudetenland, von der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie von der Invasion der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei im Jahre 1968 vorgelegt. Sie konnten dann frei ihre Erlebnisse zu den betreffenden Zeitabschnitten schildern. Weiter wurden die Betreffenden zum Jahr 1989 und zur gegenwärtigen Situation der beiden Grenzorte sowie zu EU-Projekten in ihren Orten befragt. Kennzeichnend ist, dass Zukunftsängste im Vordergrund stehen und die Vergangenheit nur ältere Menschen bewegt.

Bärenstein und Vejprty/Weipert sind nur durch einen Bach getrennt. In beiden Orten bestehen Ängste. Die Bärensteiner fürchten, es könnten nach dem EU-Beitritt billige Arbeitskräfte aus dem Nachbarland die Einheimischen verdrängen, zumal die Arbeitslosigkeit im Erzgebirge bei über 20% liegt. Weiter bestehen Bedenken in Richtung Zuwanderung und einer steigenden Kriminalitätsrate.

Auf der tschechischen Seite gibt es Befürchtungen, mit dem deutschen oder europäischen Markt nicht konkurrieren zu können sowie die kulturelle Identität zu verlieren. Es bestehen Sorgen, deutsche Investoren könnten nur Tschechen einstellen, die die deutsche Sprache beherrschen.

Die Einstellungen der Menschen auf beiden Seiten der Grenze zum EU-Beitritt zeigten sich überwiegend negativ. Es herrsche Europaskepsis auf der ganzen Linie. Die Bevölkerung identifiziere sich überhaupt nicht mit der Europäischen Union. "Die Akzeptanz ist gering, die Angst groß", so beschreibt Projektleiter Prof. Dr. Werner Holly die Situation.

Ein Interviewpartner aus Bärenstein sah die Zukunft nicht rosig. Er prophezeite, dass das Erzgebirge ein "Altenhaus" werden könne: "Die Jugend macht fort."

Auch in Vejprty/Weipert blicken die Menschen in eine düstere Zukunft. Von dort ziehen ebenfalls die Menschen weg. Der Häuser verfallen. Vejprty/Weipert war vor dem Zweiten Weltkrieg eine wohlhabende Stadt mit rund 15.000 Einwohnern und etwa 80 Fabriken. Nach der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg blieben 3.000 Einwohner übrig. Auch hier liegt die Arbeitslosenquote weit über dem tschechischen Durchschnitt.

Die von tschechischen Spitzenpolitikern in die politische Diskussion gebrachte deutsch-tschechische Vergangenheit interessiert nach der erwähnten Studie nur die Erlebnisgeneration. "Die Grausamkeiten der Vergangenheit bewegen nur noch die alten Menschen, die ganz jungen Menschen wissen darüber fast nichts", erklärte Prof. Holly. Ein Gemeinschaftsgefühl sei kaum vorhanden, Kontakte hielten sich in Grenzen. Das sei nicht anders gewesen, als die politischen Führungen noch von "sozialistischen Brudervölkern" sprachen. Ein Schüleraustausch könnte beispielsweise zu einem Zusammenwachsen beitragen. Wichtig sei, dass die Politik sensibel wird für die unterschwelligen Ängste der Leute. Obwohl es aber auf der Ebene der Bürgermeister und Landräte eine enge Zusammenarbeit gebe, nähmen es die Bürger kaum wahr.

Prof. Holly wies außerdem darauf hin, dass die Projektumfrage keinesfalls repräsentativ sei. An der deutsch-polnischen, der österreichisch-ungarischen, der österreichisch-slowenischen und an der italienisch-slowenischen Grenze würden von anderen Forschergruppen die gleichen Untersuchungen vorgenommen.

Adolf Wolf