KULTURBRIEF NR. 9

Protokoll der Landeskulturtagung der SL-LG Hessen
in Wetzlar-Garbenheim

am 29. September 2001

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Programm

1 Begrüßung durch den Landeskulturreferenten
Hinweise zum Tagesverlauf
Rückblick auf die Kulturtagung 2000, u.a. Resonanz auf den Frage- und Erhebungsbogen
2 Einführung in das Tagesthema:
Die Vertreibung in der deutschen Geschichte - ein vernachlässigtes Problem
Referent: Dr. Herbert Schreiber
3 Vertreibungen in und Vertreibungspläne für den böhmisch-mährischen Raum vor 1933
Referent: Dr. Helmut Kiezl
MITTAGESSEN
4 Die Vertreibung von Kehl
Referent: Thorsten Hofferberth
5 Welchen Stellenwert hat das Schicksal der Deutschen aus dem Osten in der hessischen Schulpolitik?
Referent: Dr. Herfried Stingl
6 Fernsehfilm: Böhmische Reise - Von Pilsen nach Karlsbad
Referent: Helmut Seidel

Die Teilnehmer:

Bartels, Edeltrud, Hanau
Bernhardt, Anni, Frankfurt
Bischof, Otto, Wetzlar
Fix, Walter, Dillenburg
Freismuth, Maria, Frankfurt
Friedl, Alois, Frankfurt 
Giebel, Margit, Kassel
Giebel, Prof. Dr., Kassel
Grosch-Meixner, Hildegard, Kassel
Hofferberth, Thosten. Erbach
Hüber, Manfred, Leun
Kemmler, Christl, Dillenburg
Klaner, Alfred, Lollar
Klemenz, Siegfried, Bergstraße
Kneifel, Edwin, Dillenburg
Krämling, Rudolf, Büdingen
Kretschmer, Rosemarie, Wetzlar
Löhner, Helga, Herborn
Marsch, Berta, Weilburg

Meyer. Gertrud, Wolfhagen
Mohrmann, Margit, Weilburg
Nassauer, Inge, Dillenburg
Patsch, Heinz, Frankfurt
Quaiser, Erika, Bad Nauheim
Quaiser, Norbert, Bad Nauheim
Schönich, Richard, Marburg
Seidel, Helmut, Erbach
Stingl, Dr. Herfried, Groß-Gerau
Trepesch, Kurt, Hanau
Urban, Edeltraud, Naumbg.
Walter, Gertrud, Wetzlar
Weller, Gerda, Lahnau
Zaun, Berta, Zierenberg
Zenker, Anni, Butzbach
Zenker, Josef, Butzbach
Zimmerhackl, Anna, Weilbg.
Zips, Gertrude, Weilburg

Am 29. September d.J. lud die Sudetendeutsche Landsmannschaft zu ihrer jährlichen Kulturtagung nach Wetzlar-Garbenheim ein und 38 Kulturreferenten und Kulturbeauftragte waren erschienen. Der Kulturreferent, Dr. Herbert Schreiber, und Lm. Manfred Hüber als Vertreter des Vorstandes begrüßten die Teilnehmer und stellten die eingeladenen Referenten vor. Lm. Helmut Seidel, stv. Kulturreferent, erinnerte uns an den Jahrestag des Münchener Abkommens (1938) und würdigte in einer kurzen Stellungnahme die Bedeutung dieses Vertrages für unser sudetendeutsches Schicksal. Mit gemeinsamen Liedern (Riesengebirge, die Gedanken sind frei) und mit Zitherbegleitung vom Besten leiteten wir zu unserem Programm über.

Regularien

Der Hauptpunkt der Regularien war unser gemeinsam beschlossener Erhebungsbogen zu unserer Kulturaktivität in der Landsmannschaft, dessen Ergänzung nachgefragt wurde. ER gibt uns ein Bild über das kulturelle Leben und ist Nachweis für die uns staatlicherseits zugestandenen Gelder zu unseren Kulturprogrammen aus dem Vertriebenengesetz (§ 96 BVFG).

Zur Diskussion wurde erneut der Plan des ehemaligen Kulturbeauftragten der Bundesregierung, Herrn Naumann, der eine völlige Neuorganisation unserer Kulturarbeit, ihrer Inhalte und ihrer Organisation vorsah. Protestiert hatten wir bereits gegen die AUSHEBELUNG DES § 96 und die Übertragung der kulturellen Aktivitäten an die Universitäten (neue Kulturreferenten, Universitätslehrer, kulturelle Begegnung und gemeinsame Forschung nunmehr über den deutsch-tschechischen Universitätsbereich). Die Neuverteilung unserer Subventionen an noch zu schaffende Institute bedeute für uns die Entfernung aus der Verantwortung für unsere Kulturtraditionen und das langsame Auslöschen unserer Kulturarbeit oder deren Beschränkung auf Folklore.
Der neuernannte Kulturbeauftragte Professor Rümelin habe jüngst verlauten lassen, daß der Naumannplan ohne Korrekturen fortgeschrieben werden solle und daß mit dem Hinweis auf die heute fehlende Strukturierung unseres Kulturschaffens die Universität beauftragt werden solle.
Unsere kurze und sehr ehrliche Diskussion zu diesem Thema gipfelte in der Kritik um die Nichtanerkennung des bisher Geleisteten und um die versuchte Vertreibung unserer Menschen aus ihrem eigenen Kulturschaffen, welche nach dem neuen Kulturplan nicht wegzuleugnen sei.

Generalthema der Tagung war die Vertreibung. Dazu referierte:

Lm. Dr. Herfried Stingl.

"Welchen Stellenwert hat das Schicksal der Deutschen aus dem Osten in der hessischen Schulpolitik?"

Wenn vor wenigen Jahren in der Frankfurter allgemeinen Zeitung zu lesen war, daß die Heimatvertriebenen heute eine zweite Vertreibung erleben würden, nämlich die Vertreibung aus ihrer Geschichte, so ist das nicht übertrieben. Obwohl die Vertreibung der rund 15 Millionen Deutschen nach dem 2. Weltkrieg keine Randerscheinung der Geschichte ist, sondern zu den schlimmsten Kapiteln des 20. Jahrhunderts gehört, entschwindet sie immer mehr dem allgemeinen Bewußtsein.

Ob die in jüngster Zeit gesendeten Filme über Flucht und Vertreibung längerfristig eine Änderung dieser seit Jahrzehnten andauernden Tendenz entgegenwirken, muß sich noch zeigen.

Das erschreckende Wissensdefizit über das Schicksal der deutschen aus dem Osten dürfte weniger ein Ergebnis zufälliger Versäumnisse, sondern ein mehr oder weniger bewußt herbeigeführter Prozeß sein. Welches sind die Gründe, daß das Thema Vertreibung weitgehend ausgegrenzt oder einäugig behandelt wird?

Der tschechische Wissenschaftler Bohumil Dolezal hat vor wenigen Monaten in der FAZ unter dem Titel "Die Schuld der Sieger" folgendes geschrieben: "So ist der Zweite Weltkrieg auch fünfzig Jahre nach seinem Ende noch nicht wirklich Vergangenheit geworden... Die Sieger ... triumphieren auch heute noch; zwar nicht mehr auf dem Schlachtfeldern, aber in den Konferenzräumen. Und die Besiegten verlieren zwar nicht mehr ihr Leben, wohl aber ihr Geld..." Muß man nicht hinzufügen: Auch ihr Geschichtsbewußtsein?

Ist das einer der Gründe, warum in der großen Ausstellung im Deutschen Dom in Berlin - verantwortlich ist der Deutsche Bundestag - die Vertreibung der Deutschen vollkommen verschwiegen wird? Bekanntlich sind meine Versuche, wesentliche Verbesserungen zu erreichen, erfolglos geblieben?

Ausländische Beobachter können die Haltung der Deutschen nicht verstehen, wie zum Beispiel der estnische Staatspräsident Lennart Meri: "Für mich als Este ist es kaum nachvollziehbar, warum Deutsche ihr eigene Geschichte so tabuisieren, daß es enorm schwierig ist, über das Unrecht gegen die Deutschen zu publizieren oder zu diskutieren, ohne schief angesehen zu werden - aber nicht etwa von Esten oder Finnen, sondern von Deutschen selbst."

Bei der Landeskulturtagung 2000 hatte ich schon an einigen Beispielen gezeigt, welche gravierenden Defizite in den hessischen Schulbüchern hinsichtlich der Darstellung der Vertreibung und der sudetendeutschen Geschichte bestehen. (Kulturbrief Nr. 8)

In der Aussprache über mein Referat wurde damals vorgeschlagen, Kultusministerin Karin Wolff auf diese Mißstände aufmerksam zu machen und um Verbesserung zu bitten. Dies hat Dr. Schreiber alsbald gemacht.
Die Antwort aus dem KM war ernüchternd: "Ein generelles Defizit ist nicht festzustellen. Auch für eine verharmlosende Tendenz konnte ich keine Belege finden."

Auch der Hinweis auf eine monokausale Darstellung der Sudetenfrage in den meisten Schulbüchern wurde zurückgewiesen und u.a. geäußert: "Dies ändert nichts an der alleinigen Verantwortung des nationalsozialistischen Deutschland für die gewaltsame Zerschlagung der Tschechoslowakei."

Daraufhin habe ich alle Geschichtsbücher, in an hessischen Schulen zugelassen sind, analysiert. Das Ergebnis bestätigte das, was ich vorigem Jahr schon an einigen Beispielen dargestellt hatte.

  1. Es ist eine Tatsache, daß in fast allen Büchern die Vertreibung verharmlost wird, dadurch,
  2. In keinem Buch wird darauf hingewiesen, daß die Vertreibung der Deutschen ein Teil der Vertreibungen des 20. Jahrhunderts sind, die schon vor dem Ersten Weltkrieg begannen und bis in unsere Zeit andauern und deren eigentliche Ursachen im Nationalismus liegen, der im 19. Jahrhundert begann.
  3. Es wird nirgends erwähnt, daß die Deutschen aus Gebieten vertrieben wurden, in denen ihre Vorfahren schon seit Jahrhunderten beheimatet waren und die zu einem wesentlichen Teil zu Deutschland (in den Grenzen von 1937) gehörten.
  4. Während die Probleme bei der Aufnahme der Vertriebenen in mehreren Büchern behandelt werden, ist die "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" nur in zwei Büchern genannt. Auf den Beitrag der Vertriebenen zum Aufbau unseres Landes wird nur in einem Band hingewiesen.
  5. Sofern der "Lastenausgleich" von 1952 überhaupt erwähnt ist, wird fast immer der Eindruck erweckt, als seien damit die Vertriebenen für ihren Vermögensverlust entschädigt worden.

Diese Analyse habe ich der Frau Kultusministerin mit einem Schreiben, in dem ich die Aussagen des Briefes an Dr. Schreiber als unzutreffend bezeichnete, bei der Sitzung des Landesvertriebenenbeirates am 1.März 2001 übergeben. Ein Tagesordnungspunkt war die Behandlung des Themas Vertreibung und der ostkundliche Unterricht in den Schule und die neuen Lehrpläne. Frau Wolff sagte u.a.: "Bei den Schulbüchern kommt es auf die fachlichen Kriterien und nicht auf die Seitenzahl an. Es gilt weiterhin, dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit Rechnung zu tragen. Dazu gehört, daß die Vertreibung nicht zu rechtfertigen ist, auch nicht mit dem Verbrechen des Nationalsozialismus. Im übrigen legt Frau Kultusministerin Wolff Wert auf die Feststellung, daß die Schulbücher nicht Werke des Kultusministeriums, sondern der Schulbuch-Verlage sind und ein Einschreiten nur bei groben Verstößen möglich ist."

Ich habe in der Aussprache auf das Hessische Schulverwaltungsgesetz aufmerksam gemacht, wonach keine Schulbücher zugelassen werden, die schwerwiegende sachliche Fehler enthalten. Demnach könnten eigentlich Bücher, in denen die Opfer von Flucht und Vertreibung verschwiegen werden, nicht zugelassen werden.

In einem Schreiben am 4.Juli 2001 habe ich den Staatssekretär im Kultusministerium Herrn Dr. Hartmut Müller-Kinet auf zwei Schulgeschichtsbücher aufmerksam gemacht, die erst im vorherigen Jahr vom Kultusministerium zugelassen worden waren und die ebenfalls erhebliche Mängel aufweisen. So wird in einem u.a. behauptet, daß nach dem 2. Weltkrieg auch 1,8 Millionen Tschechen in die Sudetengebiete und 3 Millionen Polen nach Ostdeutschland vertrieben worden wären. Auch die folgende Formulierung ist nicht zu billigen: "Bei der Vertreibung kam es zu Racheakten und auch zu Verbrechen." Demnach könnte man denn auch den "Brünner Todesmarsch" als Racheakt bezeichnen. Der zuständige Referent im KM hat diese Formulierung nachdrücklich verteidigt!

Frau Kultusministerin machte bei der erwähnten Sitzung am 1. März dem Landesvertriebenenbeirat das Angebot, die Entwürfe der neuen Lehrpläne zu prüfen und Verbesserungsvorschläge einzubringen.

Der Entwurf des Lehrplans Geschichte für den gymnasialen Bildungsgang der Jahrgangsstufen 6 bis 10 enthielt schon das Thema "Flucht und Vertreibung", doch einige wesentliche Punkte fehlten, u.a. war die deutsche Ostsiedlung nicht als verbindlicher, sondern nur als fakultativer Unterrichtsstoff vorgesehen, d.h. in der Regel fällt dieses Thema "unter den Tisch", ferner war die Integration der Vertriebenen überhaupt nicht genannt.

Als Landesvertriebenenbeirat haben wir fristgerecht am 2. April eine Stellungnahme zu diesem Entwurf abgegeben und begründete Ergänzungsvorschläge gemacht.
So haben wir darauf hingewiesen, daß die deutsche Ostsiedlung nicht nur für die deutsche, sondern auch für die Geschichte unserer östlichen Nachbarländer bis in die Gegenwart eine große Bedeutung hat. Es sollte Aufgabe der Schule sein, über die Geschichte der früheren deutschen Siedlungsgebiete zu informieren. Weitere Ergänzungsvorschläge betrafen das "Kriegsende und die Friedensschlüsse 1918- 20", die Sudetenfrage und die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen.

(Zusatz zum Stand Januar 2002: In den endgültigen Lehrplan für die Sekundarstufe 1 des Gymnasiums wurden die meisten Ergänzungsvorschläge übernommen.
Sehr bedauerlich ist es allerdings, daß nach wie vor die Ostsiedlung kein verbindlicher Unterrichtsgegenstand ist. Dies bedeutet, daß die meisten Schüler und Schülerinnen nichts darüber erfahren, wann und wie die Heimatgebiete der Vertriebenen besiedelt worden sind.
Die kurzfristige Intervention der Staatsministerin Frau Silke Lautenschläger konnte leider keine Änderung bewirken.

Auch in den Geschichtslehrplänen für die Haupt- und Realschule ist die Ostsiedlung nur als fakultativer Unterrichtsgegenstand genannt.
Das Thema Flucht und Vertreibung kommt in den Plänen für die beiden Schulstufen sogar zweimal vor, einmal im Zusammenhang der Nachkriegszeit und zum anderen in folgender Formulierung: "Spuren der nationalsozialistischen Herrschaft; In die Gegenwart reichende Folgen der NS- Herrschaft; Flucht und Vertreibung; rechtfertigende Legenden; Rechtsradikalismus".
In diesen Zusammenhang gebracht werden unzutreffende Assoziationen geweckt!

Im übrigen sind gerade an den Geschichtslehrplänen für die Haupt- und Realschule noch weitere Mängel. So werden die Deutschen kollektiv als "Volk von Ja-Sagern" genannt und große Teile der deutschen Geschichte werden ausgeblendet.

Das "Neujahrsgespräch" (24.1.) war eine gute Gelegenheit Ministerpräsident Roland Koch für die Brisanz dieser Thematik zu sensibilisieren. Danach gibt es eine begründete Hoffnung, daß das Schicksal der Vertriebenen und die Geschichte ihrer Heimat nicht mehr so "unter den Teppich gekehrt" werden wie bisher.)

In der folgenden Aussprache dankte unser Publikum dem Referenten für seine Recherchen, für seine Vorstellung beim Kultusministerium, für seine Untersuchung der Schulbücher und für den Nachweis der Vernachlässigung des Vertreibungsthemas in diesen und in den Lehrplänen. Seine Bemühungen beim Ministerium hätten zwar Verständnis bei der zuständigen Ministerin gezeigt, man wandte diesem Thema nun neue Aufmerksamkeit zu, was wir respektieren. Die Zuhörer verlangten jedoch mehr Vollständigkeit und stärker tatsachenbezogene Darstellungen des Vertreibungsthemas und nicht den regelmäßigen Abbau unseres Vertreibungsschicksals aus Schule und Lehrplan. Die neuen Vertreibungen auf dem Balkan und in der gesamten Welt erhielten einen weit bedeutenderen Stellenwert und mehr menschliche Teilnahme in unserer politischen Wirklichkeit in Buch und Medien. Die Diskussion bejahte eine Revision dieses Stellenwertes und stellte diese in die Verantwortung unserer gesamten Volksgruppe. Verantwortung für die Darstellung unseres Vertreibungsschicksals hätten wir alle. Unserer jungen Generation darf die Ostgeschichte nicht vorenthalten werden. Sie muß tatsachengetreu in unsere Schule, in die Schulbücher und in die Diskussion. Unser Volk kann es sich nicht leisten, die gesamte Nachkriegsgeschichte und das ostdeutsche Schicksal der Vergessenheit zu übereignen und unserer jungen Generation zur Gegenwartsgeschichte und Zukunftsperspektiven in Halbbildung zu vermitteln. Es ist die Verantwortung des Elternhauses, unseren Kindern diesbezügliches Tatsachenwissen zu vermitteln. In diesen Punkten war sich die Diskussion einig.

Thorsten Hofferberth

"Die Vertreibung von Kehl"

(Anmerkung der Redaktion: Herr Hofferberth hat der Redaktion leider keine schriftliche Abhandlung seines Referates zukommen lassen.)

Erinnerungen und teilweise Erlebtes stellten sich an diesen Vorgang bei einigen Diskutierenden ein, was zu reger Aussprache führte.
Man klagte französische Machtpolitik an, man war andererseits nicht wenig erstaunt, daß ein Bild wie das von Kehl in der Geschichte einer Kulturnation unterzubringen sei. Dieserart militärische Praktiken haben politisch fehlgerichtete Begründungen, die eigentlich in die Zeit des Imperialismus gehörten und die jedem Kultur- und jedem demokratischen Bewußtsein widersprächen. Es sei so viel Widersprüchliches in den politischen Konzepten auch der westlichen Nationen, die heute laut die Verbrechen und die Vertreibungen auf dem Balkan an den Pranger stellten, die Menschenschicksal und Friedensbruch bejammern, die aber die Untaten an unseren Menschen bei den Vertreibungen der Nachkriegszeit unter dem Teppich kehren möchten. Das Vertreibungsthema muß wieder und gemäß seinem Stellenwert in ein möglichst objektives Geschichtsbild. Geschichte müsse im gesamten Spektrum der Wissenschaft eine höhere Bedeutung erhalten und nicht einseitig politisch ausgerichtet werden.
In die erweiterte Diskussion trat die Kritik am schwindenden Interesse an.
Die Ostgeschichte und besonders jene der Nachkriegszeit trat kaum noch in den politischen Horizont, man bespreche unsere Vertreibung heute kaum noch auf dem Hintergrund der Menschenrechte. Hier sei noch viel aufzuarbeiten und in eine wissenschaftlich saubere Darstellung zu bringen. Man erinnere an die Bensch-Dekrete, die selbst Mord und unverjährbares Verbrechen in die Straffreiheit stellten und die derselbe Staat, der heute nach Europa will als seine Verfassungsgrundlage bezeichnet.

Dr. Herbert Schreiber

"Die Vertreibung in der deutschen Geschichte - ein vernachlässigtes Problem."

In seinem Referat gab der Kulturreferent einen Abriß aus dem Gang des politischen Wandels unserer deutschen Politik, zu ihrer fließenden Einstellung zum Verlust der deutschen Ostgebiete und zu unserer Vertreibung. Dann ging er über zum heutigen Stand der politischen Diskussion und zu deren diplomatischen Anstrengungen um "gute Nachbarschaft und Versöhnung" mit den Vertreiberstaaten. In seinen Vergleichen wurden Gründe gefunden, die unsere Politik heute nötigen, das Thema Vertreibung aus Geschichte und Gegenwart zu drängen. Man erinnere sich an frühere Forderungen der großen Parteien und Persönlichkeiten zur Wiederherstellung unserer Ostprovinzen, an die Ostverträge und ihre Kritiker und Befürworter und an die Anfänge einer Ostpolitik, die den polnischen und tschechischen Nationalismus befrieden und zur Anbahnung von Beziehungen führen sollte. Ihr heute erkennbares Ziel war Aussöhnung, möglichst gleiche Schuldverteilung und Kompromißbereitschaft für ein gemeinsames Geschichtsbild. Europa sei die gemeinsame Perspektive der Zukunft und diese müsse gemeinsam beschritten werden. Unsere Regierung tat sich schwer, unser Volk auf den "Blick in gemeinsame Zukunft" vorzubereiten. In ein solches Bild passe eine "belastete" Vergangenheit schwer und das Vertreibungsthema wird als spaltender Einspruch in ein geschlossenes Programm empfunden, welches Verstehen und Gegenseitigkeit ohne gerechten Ausgleich für Verbrochenes anstrebt. Das Schicksal der Nachkriegszeit von Millionen vertriebener Deutscher solle möglichst ausgeblendet werden. Und das tut man durch Stillschweigen und durch das Übergehen von Rechts- und Schuldfragen.

Die neue Aufarbeitung der Geschichte verliert sich in multikulturell gerichteten Kompromissen, in denen Unrechtstatsachen kaum noch Platz beanspruchen, der neue Mensch in einer neuen Gegenwart habe auf das Hier und das Jetzt politisch ausgerichtet zu werden. Die Nation gab sich ein neues Geschichtsbild, aufgebaut auf der Gegenwart, die Vergangenheit verdunkelnd und auf die Zukunft gerichtet. Die Kriegsfolgen sollten abgetragen werden, ein Sühne- und Schuldbekenntnis haben wir so übernommen wie die uns zudiktierte Aufgabe, sich in ein neues Europa und eine friedvolle Welt zu integrieren. In dieser Richtung laufe auch die neue Völker- und Menschrechtsdiskussion, die in Potsdam geschaffenen Zustände sollen anerkannt und auf diesen eine neue Zukunft gebaut werden. Unter diesen Forderungen hat künftig auch die Vergangenheit betrachtet und erkannt zu werden.

Das ist auch der politische Tenor der deutsch-tschechischen ERKLÄRUNG: Sie drängt beide Nationen in die Täter- und Opferrolle, Geschichte habe fortan nur noch das Positive im Zusammenleben der Völker zu betonen (Genscher). Zeiten des Zwistes und des Schreckens sind da kaum noch erinnerbar. Die Aufarbeitung der Vergangenheit steht nunmehr in keinem Fortschrittskonzept. Vertreibung ist zwar Wahrheit und Tatsache, war Leiden und Unrecht; niemand leugnet das. Ihre Erwähnung erscheint dem Fortschrittsbürger und in der Mehrheitsmeinung des Volkes rückschrittlich, unbedeutend, ja unpatriotisch.

Und damit die Frage an uns: Wie bringen wir uns wieder in unsere nationale Politik ein und woher nehmen wir unsere Argumente.
Nun, wir glauben, daß Geschichte, sofern sachlich und wissenschaftlich betrieben, nicht in verbindende und trennende Wahrheiten aufgeteilt werden kann. Wir glauben an das Fortbestehen einer 2000jährigen christlichen Tradition, aus welcher sich Recht und Wahrheit, aus welcher wir alle unsere Wertübereinkünfte nahmen. Aus ihr entwickelten sich die Menschrechte und alle unsere Rechtspositionen. Aus diesen gestalteten wir die Entwicklung unserer Gemeinschaften und ein friedliches Zusammenleben. Mit Recht verweisen wir daher auf ein Europa der Werte, welches sich die nationale und internationale Politik zu einem Nahziel setzte. Und eben diese Werte entwickelten sich aus unserer gemeinsamen europäischen Tradition, nicht aus neuen politischen oder ideologischen Konzepten. Hier haben die Bensch-Dekrete keinen Platz!

Mit diesen Forderungen stehen wir nicht allein. Es war Vaclav Havel, der von Rachsucht, von rassisch motivierter Verfolgung der Deutschen sprach, der für sein Volk eine ehrliche Rückbesinnung auf eine sachlich aufgearbeitete Geschichte verlangte. Er bezeichnete die Wahrheit und die Gerechtigkeit als die tragenden Säulen in einem versöhnten Europa. Einverstanden! Versöhnung ja, aber auf der Grundlage des Mensch- und Völkerrechts, auf gemeinsamer Reue und Wiedergutmachung und auf versöhnendem Zusammenkommen zu einem gemeinsamen Wege in ein Europa der Werte, ein Europa des Friedens und gemeinsamer Zukunftschancen. Auf der Grundlage einer so hergestellten Gleichheit muß Versöhnung, muß ein gemeinsames Geschichtsbild gebaut werden. Und hier wollen wir unsere Zukunftshoffnungen ansiedeln und gedeihen lassen.

Zu einer längeren Diskussion verbleib keine weitere Zeit, hier ließen wir uns den Beifall genügen.

Helmut Seidel

"Böhmische Reise - von Pilsen nach Karlsbad"

Dieser Film von Karl Mertes wurde Anfang September 2001 in HR3 gezeigt. Seine Wiedergabe war für die Tagung einerseits als kultureller Beitrag über Westböhmen, insbesondere die Stadt Pilsen und das Bäderdreieck gedacht, andererseits sollte er Anlass geben zu einer kritischen Betrachtung von Fernsehbeiträgen über unsere sudetendeutsche Heimat.

Als positiv zu vermerken ist sicherlich, daß solche Filme aus unserem vertrauten östlichen Nachbarland in letzter Zeit vermehrt Beachtung in den Programmen finden und daß dabei inzwischen auch ohne Scheu weitgehend die deutschen Ortsbezeichnungen benutzt werden und bisweilen auf die deutsche Vergangenheit hingewiesen wird.

Ansonsten ist der Film aber kein besonderes Meisterstück. Das Bildmaterial leidet an den offensichtlich nicht gerade für Filmaufnahmen optimalen Wetterverhältnissen, ist daher recht flach und ohne Brillanz, was oftmals auch für die inhaltliche Auswahl und Gestaltung gilt. Die nicht ganz idealen Projektionsbedingungen verstärkten dies noch. Ebenso tragen im Film die recht monoton gesprochenen und "abgelesen" wirkenden Kommentare nicht unbedingt zu einer Verbesserung bei. Die nicht gerade der geographischen Zuordnung entsprechende Reihenfolge (z.B. Kloster Kladrau) mag dabei den Nichtkennern am wenigsten auffallen.

Doch die Knappheit der Zeit gab solch kritischen Betrachtungen ohnehin keine Gelegenheit. Insgesamt ist es aber, wie anfangs erwähnt, zu begrüßen, daß solche Filme Beachtung im Fernsehen finden. Dies ist, wie LO Alfred Herold erwähnte, auch mit auf die Präsenz und Aktivität des BdV im hessischen Rundfunkrat zurückzuführen. Möge weiteres in unserem Sinne folgen!

In seinem Programm hatte Lm. Seidel zwei Filme im Angebot, wobei einer zur Auswahl gestellt wurde. Noch einmal thematisierte der Referent den Tag des Münchener Abkommens. In der Einleitung nannte er die Persönlichkeiten der damals Vertragsabschließenden und ging auf die Folgen unseres Anschlusses an Deutschland ein. Die Zertrümmerung der damaligen CSR war, nach tschechischer Auffassung, der Anlaß und der Anfang zum zweiten Weltkriege (und nicht der Überfall auf Polen!)

Der Film selbst war gedacht als Ausklang zur Tagung und als Erinnerung an unsere Heimat. Pilsen, so der Referent, ist nicht nur die Stadt des "Urquells", hier begeistern auch die Architektur der Kirchen und der Patrizierhäuser auf dem Hauptplatz, die Autoindustrie und vor allem ein Gang durch die Keller der Bierproduktion und der Lagerung. Schöne Schlösser und Bauten deutscher und deutsch-tschechischer Adliger zeigte der Film auf unserem Wege zum Bäderdreieck. Hier waren die Architektur, die Badeanlagen, die landschaftliche Schönheit das Thema der Bilder. Besonders betonten der Film und Referent die früher internationale Bedeutung von Karlsbad, Franzensbad und Marienbad und deren europäisches Flair, welches Adligen, Künstlern und Staatsmännern zum Anreiz wurde, die dort vor mehr als 200 Jahren Gesundheit, Begegnung und Lebensqualität suchten und wo sich Kultur, Politik und Humanität vermischten. Noch heute zeugen viele Denkmäler von einem multinationalen Charakter in der schönsten Ecke unseres Egerlandes, und schon wieder bemüht man sich um Internationalität, doch hat sich diese unter neuer Verwaltung und mit neuer Bevölkerung noch nicht eingestellt.

Tagungsabschluß

Der entspannende Ausklang einer themenreichen Tagung wurde über unseren Film gestaltet. Der Kulturreferent sprach die Dankesworte an unsere Referenten für erarbeitete Inhalte und sachliche Darstellung ihrer Themen, die zu Diskussionen anregten und den ungeteilten Beifall unserer Versammlung fanden. Er bedankte sich für die geleistete Kulturarbeit, für die Vervollständigung der Fragebögen, für qualifizierte Argumente und anregende Beiträge zu unseren Themen in sachlich geführter Diskussion. Der abschließende Beifall bestätigte uns in unserer Programmgestaltung zum gewählten Thema und zu seiner vielseitigen Betrachtung.


Lt. Programm war ein Vortrag von Dr. Helmut Klezl, der leider wegen unvorhersehbaren Komplikationen nicht teilnehmen konnte, vorgesehen. Erhat uns seinen Vortrag freundlicherweise zur Veröffentlichung überlassen.

Dr. Helmut Klezl

Vertreibungen und Vertreibungspläne im böhmisch-mährischen Raum vor 1933

Es scheint zum guten Ton zu gehören, bestimmte Teile der Geschichte des deutschen Volkes zu verschweigen. Darunter zählt auch die Vertreibung der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Mähren-Schlesien in den Jahren 1945 bis 1946. So wurde vor wenigen Jahren in Höchst im Odenwald, der Patengemeinde für die aus Bölten in Nordmähren vertriebenen Sudetendeutschen ein entsprechendes Prospekt über Bölten (tschechisch: Belotin) verteilt. Neben diversen historischen Halb- und Unwahrheiten leugnet dieses die jahrhundertelange Besiedelung des Ortes mit Deutschen und natürlich auch deren Vertreibung. Denn wo Deutsche nicht gelebt haben, von dort konnten sie logischerweise auch nicht vertrieben werden. Leider wurde dieses Prospekt sogar zur offiziellen Drucksache des Gemeindevorstands. Proteste dagegen halfen nichts. Das Schlagwort von der "II. Vertreibung", der "Vertreibung aus der Geschichte", macht nicht nur bei den vertriebenen Böltnern die Runde.

Findet diese Vertreibung überhaupt Erwähnung, so nur in einem verkürzten historischen Kontext. So war in tschechischen Geschichtsbüchern während der Zeit des Sozialismus sinngemäß zu lesen, daß die Deutschen 1938 in die Tschechoslowakei eindrangen und deshalb nach 1945 wieder vertrieben wurden. Die über achthundertjährige Geschichte der Deutschen in Böhmen und Mähren war auf sieben Jahre reduziert worden. (Gewiß, heutzutage muß man schon froh sein, daß Deutsche überhaupt noch als Bewohner Böhmens und Mährens erwähnt werden.) Die Vertreibung selbst wird als Konsequenz aus der nationalsozialistischen Politik des Deutschen Reiches gesehen. Deshalb galt es nach 1945, alle Deutschen zu vertreiben.

Allein die Machtübernahme der Kommunisten im Jahre 1947 verhinderte die vollständige Durchführung dieser Vertreibung. Unter all diesen vertriebenen Deutschen befanden sich auch Juden. Ich selbst lernte in Israel ein Ehepaar kennen, das wegen seiner jüdischen Abstammung im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert war. Nach der Befreiung des Lagers wurden sie ebenfalls aus ihrer Heimat vertrieben, weil sie, Ironie des Schicksals, "deutsche Juden" waren.

Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den böhmischen Ländern nicht als Folge einer Bestrafung Schuldiger angesehen werden kann. Daher gilt es anhand von Beispielen aus der Geschichte nachzuprüfen, ob nicht schon viel früher Gedanken zur Vertreibung der Deutschen aufgekommen waren oder sie tatsächlich vertrieben wurden.

Die Verbindung der städtischen deutschen Kaufmannschaft in Böhmen und Mähren und insbesondere der Prags mit den böhmischen Herzögen war bereits um die ersteJahrtausendwende sehr eng. Die Herzöge erkannten damals den Nutzen, den die Deutschen für ihr Land brachten. Dies führte zu verschiedenen herzoglichen Privilegien. Die damals stattfindenden Klostergründungen, die eine zusätzliche Steigerung des deutschen Einflusses bedeuteten, riefen nationalistische und antideutsche Stimmungen hervor. In seiner in lateinischer Sprache abgefaßten Chronik Böhmens, des Chronikon Boemorum, forderte deshalb der Prager Domherr Cosmas von Prag (1045 bis 1125) bereits um 1120 eine "Deutschenaustreibung" zur Sanierung der böhmischen Lande. Im berühmten Privileg Herzog Sobieslaw II. für die Prager Deutschen von 1176 waren ihnen besonders ihre Freiheiten garantiert worden. Da dieses Dokument die Verletzung von Rechten und Freiheiten der Deutschen mit einer Majestätsbeleidigung gleichgesetzt, ist davon auszugehen, daß es auch zum Schutz der Deutschen vor möglichen "Austreibungen" dienen sollte.

Der aus dem Luxemburger Hause stammende König Johann von Böhmen sah sich während seiner Regierungszeit mit einer wachsenden Opposition der böhmischen Adeligen konfrontiert. In den Privilegien von 1310 und 1311 mußte er ihnen alte Rechte garantieren und neue zugestehen. Der Forderung dieser Adelsfronde, Landesämter nicht mit Deutschen zu besetzten, kam der Luxemburger nicht nach. Auch wenn der böhmische Adel damals selbst deutsche Bauern ins Land rief, um insbesondere die Grenzwälder zu bewirtschaften, zeigte sich dessen gegen das böhmische Königtum eines Deutschen gerichtete Politik in einer antideutschen Polemik. Der zur damaligen Zeit häufig nachweisbare Kampf zwischen Adel und Königtum war hier als ethnischer Streit ausgefochten worden. Da die Deutschen nicht tschechisch sprachen, galten sie beispielsweise als "Stumme". Dieses Stigma lebt noch heute in der Bezeichnung "nemec" von nemy (stumm) für "Deutscher" fort. Ihre schriftliche Fixierung fand diese damals auf allen Ebenen gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Agitation in der böhmischen Reimchronik des "Dalimil".

Gerade durch die Arbeit der Deutschen in Böhmen und Mähren konnte dieser vormals rückständige Teil des Heiligen Römischen Reiches unter den Luxemburgern zu dessen Zentrum aufsteigen. Im Jahre 1348, als in Westeuropa die Pest wütete, von der die böhmischen Länder größtenteils verschont blieben, gründete Karl, der Sohn Johanns von Böhmen, die Karls-Universität in Prag nach dem Vorbild der Pariser Sorbonne und stellte sie unter den Schutz des Reiches.
Nach allgemeinem mittelalterlichen Schema teilten sich auch an dieser Alma Mater die Magister und Studenten in "Nationen" ein, die den vier Himmelsrichtungen entsprachen, aus denen sie herkamen. Diese Universitäts-Nation war also weder eine sprachliche noch eine ethnische Einteilung. In Prag gehörten der Nation Osten die Lausitzer, Schlesier und Polen an. Letztere blieben dieser Universität nach Gründung der Krakauer im Jahre 1364 fern. In der Süd- oder Böhmischen Nation versammelten sich die Tschechen und Deutschen Böhmens sowie die Ungarn. Mit der Gründung der Universität Wien im Jahre 1365 sowie Budapest im Jahre 1395 verließen viele Deutsche und Ungarn diese Nation, so daß sie zu einer reinen tschechischen Vereinigung wurde. In ihr blühte fortan ein neuer tschechischer Nationalgeist auf. Bei Abstimmungen sah sich diese "Nation" den drei übrigen, nicht vom tschechischen Nationalismus beeinflußten gegenüber. Mit dem Kuttenberger Dekret vom 18. Januar 1409 änderte König Wenzel, der Sohn des Universitätsgründers, das Stimmenverhältnis von eins zu drei in drei zu eins zugunsten der "tschechischen Nation" um. Dieses Dekret, das die eindeutige Handschrift des tschechischen Reformators Jan Hus trug, bedeutete eine Benachteiligung der Mehrheit gegenüber der Minderheit. Aus Protest verließen die deutschen Studenten und Professoren die Karls-Universität und gründeten in Leipzig eine neue Universität. Mit diesem Dekret sank die Prager Universität von einer Reichsuniversität zu einer Landesuniversität herab.

Die Kriege der nationalreligiösen "Kämpfer Gottes", wie sich die tschechischen Anhänger des 1415 auf dem Konzil zu Konstanz verbrannten Reformators gern bezeichneten, wurden fanatisch geführt. (Vergleiche bieten sich an.) In dieser Zeit erfuhr die deutsche Bevölkerung tatsächlich Tod und Vertreibung. Viele der deutschen Städte im böhmischen Königreich wurden durch die hussitischen Krieger vernichtet. Hierzu seien nur zwei markante Beispiele von vielen genannt:
Im März 1420 war die deutsche Stadt Komotau in Nordböhmen von den Hussiten erobert worden. Nach dem Fall der Stadt ermordeten die Hussiten fast alle in ihr lebenden Deutschen. Vor diesem rassistischen Massaker wurden nur eine Handvoll verschont, die zur Beisetzung ihrer ehemaligen Mitbewohner benötigt wurden.
Kuttenberg, die deutsche Silberbergbau-Stadt nach Iglauer Bergrecht, war deutsch geprägt und natürlich antihussitisch eingestellt. Mit ihrer Einnahme durch die Hussiten im Jahre 1421 wurden die deutsche Bevölkerung vertrieben, Tschechen angesiedelt und die hussitische Religion eingeführt. Damit erfuhr die Stadt eine vollständige nationale und religiöse Umschichtung. Als Folge des Hussitensturms ging das deutsche Element in Böhmen und Mähren stark zurück. Die deutsch-tschechische Sprachgrenze verschob sich zugunsten des Tschechischen bereits soweit, wie sie sich noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts darstellte.

Nach dem Ende des I. Weltkriegs gab es die verschiedensten Vorstellungen, wie die Bevölkerungsstrukturen der aus dem Österreichisch-Ungarischen Staatsverband heraus neugegründeten Staaten auszusehen hatten. Auch für die neu entstandene Tschechoslowakei gab es Pläne, die von einer Tschechisierung der deutschen Bevölkerung bis zu ihrer Vertreibung aus der jahrhundertelangen Heimat reichten. Unter all den genannten Plänen stach der sogenannte "Deutschlandplan" des Hannus Kuffners von 1919 hervor. Er war auch dem ersten Staatspräsidenten der CSR, Tomasch Masaryk, bekannt.
Danach sollte es zwischen Oder und Rhein zwei deutsche Staaten geben: Einen wehrlosen Pufferstaat im norddeutschen Tiefland sowie eine "Deutsche Reservation" vom Beginn der Mittelgebirge bis zu den Alpen. Die Gebiete westlich des Rheins sollten Frankreich und Belgien zugeschlagen werden. Die Niederlande erhielten Ostfriesland bis zur Ems. Ganz Schleswig und Holstein wären bis zu einer Linie Brunsbüttel-Travemünde an Dänemark gefallen. Ganz Pommern, Ost- und Westpreußen sowie der östlich der Oder gelegene Teil Schlesiens sollten an Polen gehen. Der neue tschechoslowakische Staat umfaßte danach neben Böhmen, Mähren und der Slowakei den Bayrischen- und Thüringer Wald, Sachsen und den westlich der Oder gelegenen Teil Schlesiens. Entsprechend der Grenzänderungen sollten bereits 1919, also 14 Jahre vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft im Deutschen Reich, "Bevölkerungsverschiebungen" durchgeführt werden. Nur auf Druck der Westmächte mußte sich der neue Tschechische Staat verpflichten, nach dem Muster der Schweiz "allen Einwohnern ohne Unterschied der Geburt, Staatsangehö-rigkeit, Sprache, Rasse oder Religion vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit" zu gewähren. Realiter betrachteten sich nur die Tschechen als alleiniges Staatsvolk.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Vorstellung, die ins Land gerufenen deutschen Kaufleute, Handwerker oder Bauern und natürlich deren Nachkommen wieder aus dem böhmisch-mährischen Raum zu vertreiben ist so alt wie die Besiedelung selbst. Die Deutschen waren nach heutigem Sprachgebrauch "ausländerfeindlicher" Diffamierungen ausgesetzt. Nachdem Böhmen zur Zentrale des Reiches geworden war, entstand ein neuer tschechischer Nationalismus, mit einer Stoßrichtung gegen alles Deutsche im Lande. Im Verlauf der Hussitenkriege wurden bereits fünfhundert Jahre vor der "Vertreibung", mit der angeblich Schuldige bestraft werden sollten, zahlreiche Deutsche Opfer von Mord und Vertreibung.
Systematische Pläne zur Entfernung aller Deutschen aus Böhmen, Mähren und Mähren-Schlesien entstanden Ende des I. Weltkriegs. Dies geschah sogar gut fünfzehn Jahre bevor die KPTsche, die einzige gesamttschechoslowakische Partei, das Selbstbestimmungsrecht für die Sudetendeutschen bis hin zu einer Loslösung ihrer Gebiete aus dem Verband der Tschechoslowakischen Republik forderte.
Daß die Vertreibung der Deutschen bereits 1918 geplant war, geht auch aus der Rede Edvard Beneschs vom 03. Juni 1945 in Tabor, dem Zentrum der Hussiten, eindeutig hervor.