Auf der kommunalen Ebene in der Tschechischen Republik gibt es keine Berührungsängste gegenüber Sudetendeutschen

Seminar des Deutsch-Europäischen Bildungswerks in Reichenberg/Liberec

Während die oberste politische Ebene in der Tschechischen Republik jeglichen Kontakt mit vertriebenen Sudetendeutschen ablehnt, ist auf der kommunalen Ebene der Verständigungsprozess schon weit fortgeschritten. Das zeigte auch ein Seminar des Deutsch-Europäischen Bildungswerks Wiesbaden (Bildungseinrichtung des Landesverbandes Hessen des Bundes der Vertriebenen) in Reichenberg/Liberec.

So empfing der stellvertretende Oberbürgermeister von Reichenberg, Dipl Ing. Jiri Veselka, die Teilnehmer des Seminars im Rathaus. Er gab einleitend einen Überblick über die Entwicklung der Stadt. Dabei stellte er heraus, dass Reichenberg bis 1945 eine deutsche Stadt war. Die Blütezeit habe während der k.-k.-Monarchie gelegen.

Vertreibung der Deutschen brachte tiefen Einschnitt in die Entwicklung von Reichenberg

Als einen tiefen Einschnitt bezeichnete der Oberbürgermeister die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. 80 Prozent der Bevölkerung seien "ausgesiedelt" worden. Die Vertreibung habe die Entwicklung der Stadt negativ beeinflusst. Heute gehe es darum, die historischen Bauten im Stil des 19. Jahrhunderts zu erhalten. Allerdings gebe es Gebäude in der Stadt, die in einem schlimmen Zustand seien. Auch hätte man während der kommunistischen Zeit Schandbauten errichtet. Diese würden abgerissen.

Jiri Veselka wies weiter auf den Widerstand von Bürgern der Stadt Reichenberg bei der Niederschlagung des Prager Frühlings hin. Neun Einwohner der Stadt kamen dabei ums Leben.

Zur wirtschaftlichen Entwicklung von Reichenberg bemerkte der stellvertretende Oberbürgmeister, der Niedergang der Textilindustrie konnte durch Ansiedlung neuer Industriezweige aufgefangen werden. Hier nannte er unter anderem den Maschinenbau und die Kunststoffproduktion.
Auch hätte das Industriegebiet ausgeweitet werden können. Hauptinvestoren seien die Japaner. Es konnten 3.500 Arbeitsplätze geschaffen werden. Tausend kämen noch hinzu.

Auch der Bürgermeister von Morchenstern/Smrzovka, Vladislav Fahanek hieß die Gäste aus Deutschland willkommen. Er begrüßte solche Begegnungen und lud zu einem weiteren Treffen ein.

Gute Kontakte im schulischen Bereich

Auch im schulischen Bereich bestehen Kontakte zu Deutschland. Es fand eine Begegnung im Gymnasium Gablonz/Jablonec statt. Kristina Podskalska, Deutschlehrerin, stellte die Schule vor. In einer Computeranimation brachten die Schüler den Jahreslauf in der Schule den Teilnehmern näher. Auch berichteten sie über einen Schüleraustausch mit dem Gymnasium in Michelstadt im Odenwald. Auf die Frage, ob sie einen Unterschied festgestellt hätten, brachte es ein Schüler auf den Punkt, indem er feststellte, "der Unterricht ist genau so langweilig wie bei uns".

Nach dem offiziellen Teil hatten die Schüler eine Überraschung bereit. Eine Schülerband, aus Mädchen bestehend, brachte den Seminarteilnehmern ein Ständchen.

Oberstudienrat a. R. Helmut Seidel referierte über die Schulpartnerschaft zwischen Gablonz/Jablonec und Michelstadt im Odenwald. Bereits 1989 bestand Interesse an einer solchen Partnerschaft, führte er aus. Im Mai 1992 wurde die Schulpartnerschaft mit einer Urkunde besiegelt. Darin heißt es: "Die beiden Schulen Gymnazium Jablonec nad Nisou und das Gymnasium Michelstadt im Odenwald kommen hiermit überein, den gegenseitigen Austausch von Schülern zu unterstützen, um die Verständigung zwischen beiden Völkern zu fördern und zu helfen, die Grenzen zu überwinden mit dem Ziel eines dauerhaften Friedens".

Jahrelanges Schweigen über die Vergangenheit

Über das EU-Projekt "Border Identity" berichtete Dr. Pavla Tiserova. Sie war maßgebend an der Studie über die Verhältnisse auf beiden Seiten der deutsch- tschechischen Grenze beteiligt. Ausgewählt wurde auf der tschechischen Seite die Stadt Weipert/Vejprty, auf deutscher Seite Bärenstein. Als Phänomen bezeichnete sie das jahrelange Schweigen über die Vergangenheit über alle Generationen hinweg. Die Lebenserfahrungen wurden nicht auf die folgende Generation übertragen. Kontakte zwischen den Einwohnern beider Kommunen seien selten festzustellen. Es herrsche vorwiegend die Meinung, "wir brauchen die anderen nicht, wir haben selbst Probleme".

Weiter sei eine Entvölkerung des Grenzgebietes festzustellen. Die jüngere Generation verlasse diese Region. Auf der tschechischen Seite fehlten die Kulturträger. Als Ziel nannte Frau Dr. Tiserova, es sollten Eliten herangebildet werden, die dann die Grenzregion erschließen könnten.

Verständigung zwischen Sudetendeutschen und Tschechen muss von unten nach oben erfolgen

Weiter standen auf den Programm die Besichtigung des Klosters sowie der Basilika in Haindorf/Hejnice.

Wie Dr. Milos Raban, Pfarrer und gleichzeitig auch Leiter des Zentrums für geistige Erneuerung, ausführte, wurden die Franziskaner im Jahre 1946 mit der deutschen Bevölkerung vertrieben. Die Gebäude des Klosters und die Kirche verfielen immer mehr. Dr. Milos Raban gelang es, das Kloster und die Basilika mit Hilfe von Sponsoren zu sanieren. Heute beherbergt das Kloster das Internationale Zentrum für geistige Erneuerung. Auf das sudetendeutsch-tschechische Verhältnis angesprochen, bemerkte Dr. Raban, auf der obersten politischen Ebene in der Tschechischen Republik sei dies ein Tabu. Die Jugend stehe jedoch diesem Abschnitt der Geschichte aufgeschlossen gegenüber. Es komme jetzt darauf an, von unten nach oben eine Änderung des Bewusstseins herbeizuführen.

Als weitere Tabuthemen der tschechischen Politik führte er die Kirche und den Adel an.

Mit der Besichtigung des Schlosses von Friedland/Frydlant wandelten die Teilnehmer auf den Spuren Wallensteins. Er soll sich dort jedoch nur vierzehn Tage aufgehalten haben. Das Schloss wurde der Familie Redern wegen ihrer Parteinahme zu Friedrich II. enteignet und das Eigentum auf Wallenstein übertragen.

Thema Vertreibung in der Öffentlichkeit kein Tabu mehr

Auch erfolgte ein Besuch des Begegnungszentrums der deutschen Minderheit in Reichenberg. Erwin Scholz gab einen Überblick über die Lage der deutschen Minderheit seit Ende des Zweiten Weltkriegs. In der Öffentlichkeit sei das Thema Vertreibung heute kein Tabu mehr. Besonders die tschechische Jugend sei an der Aufarbeitung der Geschichte interessiert.

Den Abschluss der Veranstaltung bildete ein deutsch-tschechischer Nachmittag in Reichenberg. Der Vorsitzende des Verbandes der Deutschen in Reichenberg bedankte sich herzlich für den Besuch. Mit solchen Begegnungen und Veranstaltungen würde das Ansehen der deutschen Minderheit gestärkt.

Adolf Wolf